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Staatsanwaltschaft Berlin

Berlin den 18. mai 2001

1 Kap Js 1995/98

Herrn Rechtsanwalt
eingegangen 31. mai 2001
Wolfgang Kaleck
Postfach 550264
10372 Berlin

Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt,

das auf die Strafanzeige der Frau ----- vom 19. Oktober 1998 zunächst wegen des Verdachts der Geiselnahme gegen Unbekannt eingeleitete Ermittlungsverfahren habe ich eingestellt (§ 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung).

Nachdem dem Anzeigevorbringen entsprechend zunächst ein Anfangsverdacht wegen Geiselnahme zum Nachteil des Vermissten bejaht wurde, sind die Ermittlungen auf das Vorliegen eines Tötungsdelikts ausgedehnt worden, nachdem der Vermisste am 22. Oktober 1998 in einer Grünanlage an der Gutschmidtstraße in Berlin-Neukölln erhängt aufgefunden worden war.

Die am 23. Oktober 1998 im Institut für Rechtsmedizin der Freien Universität Berlin durch die Gerichtsmediziner Prof. Dr. med. V. Schneider und Dr. med. M. A. Rothschild durchgeführte Obduktion der Leiche des Verstorbenen erbrachte im Wesentlichen folgendes Ergebnis:

"Der 26 Jahre alt gewordene Boris F---- ist nach dem Ergebnis der Obduktion an einem akuten Sauerstoffmangel des Gehirns infolge Erhängens verstorben.

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Am Hals der Leiche fand sich ein 3 cm breiter schwarzer Ledergürtel, dessen freies Ende im Sinne einer laufenden Schlinge durch die Gürtelschnalle gezogen war. Das freie Ende des Gürtels war mit einem festen Drahtstück verlängert. Nach der Wegnahme des Gürtels zeigte sich darunter in der Halshaut eine entsprechende, knapp 3 cm breite Strangfurche, die an den Rändern zum Teil geringgradig geschürft war. Entsprechend hierzu bestanden kleine abgeriebene Hautfähnchen an der Innenseite des Ledergürtels.

Die Strangmarke verlief von einem tiefsten Punkt am Vorderhals oberhalb des Schildknorpels symmetrisch an beiden Halsseiten ansteigend, zu einem höchsten Punkt innerhalb der behaarten Nackenhaut.

An der linken Halsseite sowie an der Außenseite des linken Unterkieferastes bestanden einige kleinflächige graubräunliche Vertrocknungen. Diese endeten am Übergang der linken Halsseite zum linken Schulterdach bogenförmig, scharf abgrenzbar. Diese scharfe Abgrenzung entsprach etwa dem Kragen des an der Leiche befindlichen T-Shirts. Diese kleinflächigen Vertrocknungen lassen sich am ehesten mit postmortalen Tierfraßverletzungen durch Insekten (z.B. Käfer) in Einklang bringen. Überdies bestanden in den Nasenöffnungen sowie der Mundhöhlung reichlich Fliegeneier.

Unterhalb der Strangmarke zeigten sich keine Unterblutungen. Kehlkopfgerüst und Zungenbein waren intakt. Als Zeichen für einen zu Lebzeiten (vital) stattgefundenen Erhängungsvorgang fanden sich Unterblutungen an den Ansätzen beider Kopfwendermuskel an den jeweiligen Schlüsselbeinen.

An beiden Unterarmen zeigten sich ganz vereinzelt einige kleinflächige Vertrockungen sowie am rechten Fußinnenknöchel zwei oberflächliche ritzerartige Kratzspuren. Diese Verletzungen waren unspezifisch und könnten sich ohne weiteres mit einem entsprechenden Klettervorgang an einem Baum in Einklang bringen lassen. Hinweise für Abwehrverletzungen, Griffspuren oder Fesselungsspuren fanden sich an den Armen wie auch den Beinen nicht.

Abgesehen von den oben beschriebenen Verletzungen zeigten sich keine weiteren Verletzungen an der Leiche.

Krankhafte Organveränderungen von Gewicht zeigten sich - zumindest mit freiem Auge sichtbar - nicht.

Die Obduktionsbefunde lassen sich mit einem suizidalen Erhängungsvorgang ohne weiteres in Einklang bringen. Das an der Leiche befindliche Strangwerkzeug (schwarzer Ledergürtel) ließ sich mit der Strangmarke am Hals zur Deckung bringen."

Die im Anschluss durchgeführten chemisch-toxikologischen Untersuchungen ergaben, dass der Betroffene zum Zeitpunkt des Todes weder durch stark wirkende Medikamente noch durch Suchtmittel oder Alkohol beeinflusst war.

Eine in der Folge auf Anregung des damaligen Rechtsbeistandes der Eltern des Verstorbenen durchgeführte ergänzende gerichtsmedizinische Untersuchung zur konkretisierenden Bestimmung des Todeszeitpunktes erbrachte folgende Ergebnis:

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"Die allgemeinen Leichenveränderungen, wie wir sie selbst anläßlich unserer Obduktion am 23.10.98 an der Leiche des Boris F---- feststellen konnten sowie auch die Angaben in der Ermittlungsakte und die Klimadaten weisen daraufhin, daß es sich hier um ein postmortales Intervall (Zeitpunkt zwischen Todeseintritt und Auffinden der Leiche) von rund einem Tag handeln dürfte. Da Todeszeitbestimmungen im längeren postmortalen Intervall, zumal bei primär nicht selbst durchgeführten Untersuchungen, nur ungenau möglich sind, haben wir der Kriminalpolizei damals noch einen Sicherheitszuschlag von einem zusätzlichen Tag genannt, weshalb wir auf eine Todeszeitbestimmung von 1 - 1 ½ Tagen, maximal 2 Tagen, kamen. Ein Hängen der Leiche über einen wesentlich längeren Zeitraum, z.B. über 3, 4 oder gar 5 Tagen kann aus rechtsmedizinischer Sicht praktisch ausgeschlossen werden."

Aufgrund des Umstandes, dass der Verstorbene außergewöhnliche Fähigkeiten und Begabungen im Bereich Computer- und Elektronikwesen besaß, wurden über die gerichtsmedizinischen Untersuchungen hinaus umfangreiche Umfeldermittlungen durchgeführt, da es nicht von vornherein ausgeschlossen erschien, dass die geschilderten Kompetenzen ein Motiv für ein Verbrechen darstellen könnten.

Diese Ermittlungen erbrachten zwar kein bekanntgewordenes konkretes Motiv für ein Suizid - was jedoch nach hiesiger Erfahrung mit ähnlich gelagerten Todesermittlungsverfahren nichts Außergewöhnliches ist -, darüber hinaus jedoch ebensowenig konkretisierbare Anhalte für ein Tötungsdelikt durch Dritte geschweige denn Hinweise auf einen oder mehrere Täter.

Gleichwohl ist in der Vergangenheit auf Anregung der wechselnden Rechtsbeistände der Hinterbliebenen weiteren Ermittlungsanregungen nachgegangen worden. Dies betrifft zuletzt insbesondere die Frage der Analyse des Mageninhalts zur weitergehenden Todeszeitbestimmung.

Nachdem auf Weisung der Staatsanwaltschaft polizeiliche Anfragen bei mehreren Fachinstituten dergestalt ohne Erfolg blieben, dass derartige Untersuchungen abgelehnt wurden bzw. als nicht erfolgsversprechend bezeichnet wurden, ist auch unter Berücksichtigung des Schriftsatzes des Rechtsanwalts Kaleck vom 21. Dezember 2000, in dem dieser zwei Gutachter benannte, die seinem eigenen Vortrag zufolge eine derartige Untersuchung prinzipiell für möglich erachten, Abstand genommen werden.

Denn derartige Untersuchungen sind nicht nur dann durchzuführen, wenn sie grundsätzlich technisch machbar sind, sondern unter Berücksichtigung der übrigen vorliegenden Ermittlungsergebnisse auch unter dem Aspekt ihrer Sinnhaftigkeit als notwendig zu betrachten sind.

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Dem Vorbringen der Angehörigen und des durch Herrn Müller-Maguhn vertretenen Freundeskreises des Verstorbenen zufolge soll mit der Untersuchung folgende Hypothese bewiesen werden:

Aufgrund eines angenommenen geheimdienstlichen Hintergrunds (so Rechtsanwalt Eisenberg am 21. November 1999) soll das Opfer unmittelbar nach seinem Verschwinden, d.h. dem Verzehr einer Spagettimahlzeit zu Hause in den Mittagsstunden des 17.Oktober 1998 entführt und alsbald getötet worden sein. Dann soll die Leiche für die Dauer von mindestens zwei Tagen an einem unbekannten Ort fachmännisch gekühlt und konserviert worden sein. Alsdann hätten die Täter zur Vortäuschung eines Suizides die Leiche am Auffindeort in der Parkanlage an einem Baum aufgehängt.

Nur so ließe sich die Tatsache, dass der festgestellte Mageninhalt, der auf eine Mahlzeit zu Hause zurückzuführen sei, in Übereinstimmung bringen mit den übrigen gerichtsmedizinischen Befunden, insbesondere dem stattgefundenen "vitalen" Erhängungsvorgang.

Am 02.April 2000 ist nochmals in einem ca. 25 minütigen eingehenden persönlichen Gespräch zwischen dem Unterzeichner und dem Rechtsmediziner PD Dr. med. M. A. Rothschild die Sachlage unter rechtsmedizinischen Gesichtspunkten erörtert worden. Dr. med. Rothschild erklärte, dass es aus gerichtmedizinischer Sicht keine vernünftigen Zweifel gäbe, die der von dort vorgenommenen Todeszeitbestimmung widersprächen. Danach wäre ein Todeseintritt vor dem arrestierren vitalen Erhängungsvorgang in hohem Maße unwahrscheinlich, wobei die Leiche maximal zwei Tage (mit Sicherheitszuschlag!) am Fundort gehangen habe. Dass er in einer von der Staatsanwaltschaft veranlassten ergänzenden Stellungnahme gleichwohl eine Mageninhaltsuntersuchung bzw. eine Vergleichsuntersuchung zum Mageninhalt als "vernünftig" bezeichnet habe, erklärte er damit, dass dies aus rein wissenschaftlicher, medizinischer Sicht im genannten Sinne beantwortet wurde, da derartige Untersuchungen grundsätzlich anerkannte Methoden zur Todeszeitermittlung seien. Dass er derartige Untersuchungen von sich aus nicht für erforderlich gehalten habe, ergebe sich bereichts daraus, dass sie zuvor nicht von ihm aus veranlasst bzw. angeregt worden waren.

Ihm wurde daraufhin nochmals erklärt und verdeutlicht, dass aus Sicht der Hinterbliebenen damit belegt werden solle, dass der Betroffene unmittelbar nach seinem Verschwinden von zu Hause in den Mittagsstunden des 17. Oktobers 1998, d.h. nach dem Verzehr einer von seiner Mutter gekochten Spaghetti-Mahlzeit, durch Dritte getötet, alsdann für die Dauer von minde-

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stens zwei Tagen an einem unbekannten Ort fachmännisch gekühlt und konserviert worden sei und dann anschließend zur Vortäuschung eines Suizides am Auffindeort durch Dritte an den Baum gehängt worden sei.

Dr. Rothschild teilte daraufhin mit, dass sich aus Sicht der Obduzenten keinerlei Hinweise für einen derartigen Geschehensablauf gefunden hätten, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass im Rahmen der chemisch-toxikologischen Untersuchung keinerlei (z.B. sedierende) Medikamente festgestellt werden konnte und die Leiche keinerlei Abwehrverletzungen aufwies.

Zusammenfassend hielt Dr. Rothschild aus medizinisch-forensischer Sicht den von den Angehörigen vorgetragenen Geschehensablauf für fernliegend. An der überragenden Sachkunde der auch international renommierten Gerichtsmediziner Prof. Dr. Dr. Schneider und PD Dr. Rothschild bestehen keine Zweifel. Nach den obigen Ausführungen kann es daher dahingestellt bleiben, ob aus rein medizinischer Sichtweise die von dort angeregten Mageninhaltsuntersuchungen durchführbar sind oder nicht. Soweit die schriftlichen Ausführungen vom 11. Mai 2001 des Herrn Müller-Maguhn und Ihrer Mandantin weitere Untersuchungsanregungen im Zusammenhang mit den PTU-Berichten vom 11. Dezember 1998, 28. Dezember 1998 und 10. Mai 1999 enthalten, werden diese zurückgewiesen.

Die Untersuchungen sind - soweit erforderlich und technisch durchführbar - den Anträgen des KOK Gerstner vom LKA 4113 entsprechend durchgeführt und die Ergebnisse in den genannten Berichten schriftlich dokumentiert worden. Die anderslautenden, gleichwohl unzutreffenden - teilweise auch polemische und unsachliche Unterstellungen enthaltenden - Würdigungen des Herrn Müller-Maguhn verkennen, dass sich nicht selten die im Untersuchungsauftrag jeweils aufgeworfenen und von Ermittlungsbeamten vorformulierten Fragen nach Überprüfung durch die Fachleute und Wissenschaftler der polizeitechnischen Untersuchungsanstalt teilweise gar nicht, und häufig nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten lassen. Dies findet dann in entsprechend zurückhaltenden Formulierungen der Berichte seinen Niederschlag.

In der gebotenen Kürze zu den einzelnen Untersuchungen:

  1. Bericht des LKA PTU 33 vom 28. Dezember 1998 (nicht vom 28. Dezember 2001 wie im dortigen Schriftsatz niedergelegt):

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  1. Bericht des LKA PTU 42 vom 10. Mai 1999:

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  1. Untersuchungsbericht des LKA PTU 23 vom 11. Dezember 1998:

Bei dieser Sachlage war das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung einzustellen.

Über die endgültige Herausgabe der hier noch vorhandenen Asservate ergeht bei Bestandskraft des Einstellungsbescheides eine abschließende Entscheidung.

Hochachtungsvoll

"Unterschrift"

(Bauer)

Staatsanwalt

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