Nachtwort zum endgültigen Ende der Ermittlungen

Staatsanwalt Bauer hat den Eltern mündlich mitgeteilt, dass er Untersuchungen die er nicht angeordnet hat auch nicht anerkennen muss. Das wurde vom Anwalt bestätigt. Das Vorhaben, die vom LKA 1998 gewünschten Spurenuntersuchungen auf eigene Rechnung machen zu lassen, hat nun keinen Sinn mehr. Mit der Ablehnung der Justizsenatorin als letzter Instanz bleiben die Ermittlungen nun endgültig eingestellt. Es ist daher nun möglich, etwas unverständliche Details des Falles zu erklären. Wir sehen in etwa folgendes Szenario:

Boris wurde am 17.10.98 an einen Ort zu einem Gespräch gelockt, um ihn zur Aufgabe des Cryptofon-Projekts zu bringen. Das Gespräch, eher kurz und einseitig, brachte keinen Erfolg. Man hatte damit auch nicht wirklich gerechnet und bereits einen detailierten Plan zur Tötung vorbereitet. Er wurde sitzend mit einem Gürtel von hinten stranguliert, eher er noch irgendwie reagieren konnte. Danach wurde der Körper sofort in einen vorbereiteten Kühlbehälter verbracht. Diese ungewöhnliche und aufwendige Prozedur sollte zwei Ziele erreichen: Sie sollte den am Mord Beteiligten ein Alibi geben und einer anderen Person das Alibi nehmen. Nämlich dem Besitzer des Gürtels, dem man diesen zuvor entwendet hatte.

Die Leiche wurde am frühen Morgen des 22.10. im Park an einen Baum gehängt und Nachmittags von Passanten gefunden. Die Spuren am Fundort wurden mit Bedacht plaziert: Das Problem mit den Drahtstücken am Boden und es fehlte der eigene Gürtel, obwohl die daran getragenen Gegenstände am Boden lagen. Wahrscheinlich hätten auch die vom LKA damals angeordneten Spurenuntersuchungen weitere Hinweise auf einen schlecht gestellten Selbstmord geliefert. Auch das war ein Ziel der Täter. Sie wollten, dass für informierte Kreise der Mord ein deutlich abschreckendes Beispiel wird. Es sollte dort keine Diskussion geben ob es vieleicht doch Selbstmord war.

Wären die Ermittlungen 1998 weitergelaufen, hätten sie zum Besitzer des Gürtels geführt. Das war ein weiteres Ziel. Vieleicht hat dies jemand bei den Ermittlungen erkannt und wollte nicht einen Unschuldigen anklagen. Vieleicht war auch der Besitzer des Gürtels einflussreich genug, um die Ermittlungen zu stoppen. Dies ist mit der Hintergrund, warum die Eltern nur die juristische Feststellung des Mordes forderten, aber nicht die Ermittlung eines bestimmten Täters.

Wer waren die Täter? Das oben skizzierte Szenario setzt mehrere Täter und erhebliches Wissen vorraus: rechtsmedizinisches Fachwissen als auch Kenntnisse über das Umfeld des Opfers. Geheimdienste kommen da am ehesten in Frage. Von Anfang an wurde die Firma NDS mit ihren Beziehungen zum israelischen Geheimdienst genannt. NDS baut Dekoder füer Pay-TV, besser konstruierte Geräte als die der meisten Konkurrenzfirmen. Von denen hackte Boris welche in 98, zum Hack von NDS Dekodern blieb keine Zeit mehr. Dass NDS ihm mehrere Abokarten schenkte mag noch zur Demotivation beigetragen haben. Ausserdem war NDS über das Cryptofon und die Pläne zum Cryptron informiert. Man war sehr interessiert, später mal eine der Lizenzen zur Serienfertigung zu bekommen. Ein Geschäft, das noch grösser geworden wäre als der Pay-TV Bereich. Boris Tod muss auch NDS geschockt haben.

Nach bekannt werden des Mordes dachten manche aus Boris Umfeld sofort an das Cryptofon als Ursache. Jedoch gab es im Sommer 98 Zeichen, dass das Projekt aktzeptiert sei. Da war es zunächst schwer zu glauben, dass dies ein tödliches Missverständnis oder gar eine Falle gewesen sein sollte. Inzwischen ist aber selbst für Aussenstehende das Cryptofon als Schicksalsgerät erkennbar. Ein Gerät, das es offenbar niemals in grosser Zahl geben darf.

Noch 98 hat sich Wau Holland vorgenommen, das Cryptofon zur Produktionsreife zu bringen. Technisch war das kein grosses Problem. Er bekam aber bald deutlich andere Zeichen als Boris. Gesundheit und Leben von Mitarbeitern seien in Gefahr. Er musste das Projekt schliesslich einstellen. Zwei anderen, ähnlichen Projekten beim CCC ging es nicht besser. Es waren auch Sprachverschlüsseler, aber mit aufwendigerem, komplizierterem Aufbau und daher nicht so sicher. Geräte also, die für Abhördienste eher aktzeptierbar erscheinen. Trotzdem schliefen auch diese Projekte ein. Ein paar Leute haben Boris Cryptofon inzwischen nachgebaut, aber nur für Eigenbedarf. Es in kleinen Stückzahlen weiterzugeben, getraut sich keiner.

Deutschland ist eines der Länder mit der höchsten Anzahl polizeilich abgehörter Telefongespräche. Auch waren es die deutschen Behörden, die die Ermittlungen abblockten. So ist es naheliegend, zu fragen, ob ein deutscher Geheimdienst für den Mord verantwortlich war. Die Verbreitung des Cryptofons hätte das Abhören der Telefonleitung unmöglich gemacht, nicht aber des Telefongesprächs. Ende 97 wurden Gesetze gemacht, die es der Polizei erlauben, in grösserem Umfang die Wohnräume mit Wanzen und ähnlichem direkt zu belauschen.

Dies ist aufwendiger als das Anzapfen von Leitungen. Letzteres wird umfangreich gemacht, hat aber nur geringen Erfolg. Man tut es nur, weil es so einfach möglich ist. Der gleiche Arbeitsaufwand auf weniger Fälle mit Wohnraumüberwachung konzentriert, hätte wohl den gleichen Erfolg. Vieleicht sogar noch mehr Effekt, da man sich mehr auf wirklich wichtige Fälle konzentrieren würde. Aus dieser polizeilichen Perspektive war das Cryptofon keine Gefahr für die innere Sicherheit.

Deutschland ist als wirtschaftlich und technologisch bedeutsamstes Land Europas schon lange das Ziel von Wirtschaftsspionage, auch aus befreundeten Ländern. Entsprechend liberal steht die Politik zu Verschlüsselungssystemen, es gab dazu nie ein Verbot oder einschränkende Gesetze. Als Mitte der 90er der Internetboom begann, war Deutschland durch sein dichtes Netz an Breitbandkabel und ISDN- Anschlüssen in einer besonders guten Position. Um dieses Potential wirtschaftlich zu nutzen, brauchte man jedoch ein sicheres System zur Verschlüsselung und vor allem zur Signierung von Nachrichten. An der Lösung arbeiteten einige, aber nur Boris hatte sie gefunden (siehe unter Cryptron). Noch bevor sein erster Prototyp lief, hatte der deutsche Bundestag bereits das (heute novellierte) Signaturgesetz verabschiedet.

Paralell dazu lief ein öffentlicher Streit zwischen Crypto-Befürwortern und Gegnern. Die Gegner, konzentriert im Bundesinnenministerium, argumentierten wie die US-Regierung und forderten schwache Schlüssel oder Hinterlegung von Schlüsseln bei Regierungsstellen. Die Befürworter waren grosse Firmen und öffentliche Gruppen wie der CCC, deutlich unterstützt durch das Bundeswirtschaftsministerium. Anfang 98 war dann aus deutscher Sicht die Sache geklärt: Es wird kein Gesetz zur Beschränkung von Cryptographie geben, dafür bekam die Polizei das Gesetz zur Wohnraumüberwachung.

Massive Kritik von Seiten der US-Regierung meinte man ignorieren zu können. Ein tödlicher Irrtum. Ende 98 sah dann alles plötzlich ganz anders aus. Boris war tot, sein Projekt mit ihm begraben und Deutschland war mit anderen befreundeten Ländern von den USA gezwungen worden das Wassenaar-Abkommen zu unterschreiben. Während seit dem ganz Europa über den US Abhördienst NSA und sein ECHELON System klagt, kann man nun nicht einmal mehr in einem Pro-Crypto-Land wie Deutschland Abhilfe bekommen. Alle käuflichen Geräte haben entweder zu schwache Schlüssel, Platz für mehrere Hintertüren oder funktionieren nach einem geheimen System, von dem nur der Hersteller und die NSA wissen, wie es funktioniert.

 

 

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