Haus 42


Haus 42 - Der Technik-Freak

Vermutlich war es die Einweisung in die Nützlichkeit von Pflanzen und Tieren bei den Großeltern, was bei ihm dahingehend keine tiefe Faszination aufkommen liess. Diese Dinge gab es eben, sie waren da und damit ok. Anders bei der Technik. Hier wurden Dinge ständig neu geschaffen, geistige Arbeit, offene Perspektiven und endlose Horizonte. Es gab immer etwas zu lernen. Hier war ein Gebiet , das seiner grenzenlosen Wissbegierde geistige Nahrung bot. Wäre er mit Biologen zusammen gewesen, hätte die belebte Natur vieleicht ein Chance gehabt. So war er früh mit Technikern und zukünftigen Technik- Freaks in Kontakt. Als er dabei selbst immer mehr kleine Erfolgserlebnisse sammelte, war es klar, dass er mal in diesem Bereich arbeiten würde.

Eines der frühesten Erlebnisse hat er mit nur 3 Jahren gehabt. Eine Tante hatte ein beleuchtetes Modellschiff, eine Kogge. Die Beleuchtung war schon länger kaputt. Als Klein-Boris ("reparieren!") sich etwas damit beschäftigte, ging es plötzlich wieder. Er selbst konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, seine Eltern um so mehr. Das Lob und die Aufmerksamkeit, die er dabei erntete, dürften ganz gut gewesen sein. In späteren Jahren, so ab 6, hat er dann selbst noch einiges an Licht verlegt. In seinem Zimmer, im Inneren von Kleiderschränken ("mit automatischem Schalter!") und schliesslich sogar im Innere der Maske, die seine Eltern mit ihm aus Afrika mitgebracht hatten. Ja, da konnte er stolz drauf sein. Das meiste dürfte heute noch gehen. Ein Lob aber auch an die Eltern, die ihm das und noch viel mehr erlaubten.

Es gab sicher einige Gründe, warum er sich für Technik begeisterte. Es gibt aber vor allem eine Person, die ihn dabei in seinen frühen Jahren am besten förderte. Es war ein Nachbar von Haus 42, ein kroatischer Ingenieur, der in der Werft von Pula arbeitete. Die Beziehung zu Boris war wie zu einem Enkel. Er hatte sich in seinem Haus eine kleine Werkstatt eingerichtet und machte dort nach Feierabend alle mögliche Arbeiten, die in der Nachbarschaft anfielen. Selten, dass er mal nichts zu arbeiten hatte.

Er machte Elektroinstallationen, reparierte Maschinen und verabeitete Metall. Immer wenn er von der Arbeit kam, ging Boris rüber zu ihm. Schon vor seiner Schulzeit lernte Boris dort löten und autogenschweissen. So direkt aus der Praxis lernen Kinder am allerbesten. Mit etwa 10 baute er sich dort eine "offene Seifenkiste". Boris schweisste dazu einen Metallrahmen mit zwei Achsen, einem Brett drauf und einem Lenker. Die Strasse vor Haus 42 war gut geteert und sehr abschüssig. Da ging es dann los, mit laut kreischenden Rädern, leuchtenden Augen, kaum gebremst um die Biegung - und den Zuschauern stockte der Atem. Nur wenige seiner Freunde wollten das nachmachen. Als er nach ner Minute mit dem Ding im Schlepp wieder die Strasse hoch kam, flog ihm mit stolz geschwellter Brust sein Ego förmlich voraus.

Mahnende Worte wegen des Höllenritts akzeptierte er zwar, aber sein erstes Auto und dazu noch selbst gebaut - da liess er nichts drauf kommen. Stolz konnte er auf diese und seine anderen Arbeiten durchaus sein. Das meiste funktionierte, das war der Masstab. Mit der technischen Lösung von Problemen hatte er einen Bereich gefunden, wo nur die Naturgesetze (und der Geldbeutel) die Regeln vorgeben. Einen Bereich, wo weder autoritäres noch philosophisches Gerede Relevanz haben. Darin sich zu beweisen, bot seinem Selbstbewusstsein gute Nahrung und gute Chancen zur Selbstkritik. Etwa so, wie später die Fehlermeldung des Computers beim Ausführen der selbst geschriebenen Programme.

Dieser Nachbar konnte Boris ziemlich alle technischen Fragen gut beantworten und Zusammenhänge erklären. Ein paar Mysterien blieben aber offenbar noch übrig. Boris Mutter machte sich mal Sorgen, ob man Boris nicht zuviel Tech in den Kopf gesetzt habe. Denn die Leiterin der Vorschulklasse hatte sich bei den Eltern quasi beschwert: "Ick hab schon so viele Vorschulklassen gehabt und keener is auf die Idee gekommen, 'ne Batterie zu malen." Alle malten nur Blumen, Pferde, Bäume, Häuser. Bei Boris war es eine Batterie mit Plus- und Minuszeichen an den Polen. Ein faszinierendes Objekt. Denn niemand hatte ihm bis dahin plausibel erklären können, warum aus dem schmutzigen Innern dieser Dinger die wundervolle Kraft der Elektrizität entspringt.

Das Prinzip des Stromkreises war ihm schon früh vertraut, besonders faszinierte ihn aber, Sprache über Draht zu schicken. Mit 6 hatte er ein Schnurtelefon aus Faden und zwei Konservendosen gebaut. Mit 8 war dann das Telefon selbst dran. Zuhause in Berlin verlegte er Kabel und setzte in jeden Raum ein Telefon, parallel geschaltet zum Hauptapparat. In Haus 42 war ihm das leider nicht möglich, denn für die Touris gab es kein Telefon. Von der Elektrotechnik zur Faszination an der Elektronik war es nicht weit. Die Innereien von TV und Radio sind zwar hübsch anzusehen, will man aber ihre Funktion erkunden, lebt das Gerät meist nicht lange. Den Rat, im Sperrmüll nach Geräten zu suchen, nahm er gerne an. Mit Freunden ging er da auf Tour, sie halfen ihm, die Funde abzutransportieren. Er war für seine Suche wohl im ganzen Viertel bekannt. Einmal soll er dabei in einen Müllcontainer gefallen sein.

Ein Schnapschuß von einem Berliner Freund: "Space Invader" Boris mit Freunden in seinem kleinen Zimmer in Berlin, wo er später etliche legendäre Hacks realisieren sollte. Die Holzwand im Hintergrund, den Eltern für aktive Kinder empfohlen, zeigt schon einige Gebrauchsspuren kreativer Gestaltung. Oben ist die Maske zu sehen, von der er stolz erzählte. Die graue Linie, die am Fenster hochgeht und dann gerade zur Maske abknickt, gehört zur von ihm installierten roten Beleuchtung. Im Dunkel soll das erst richtig wirken. Neben seinem Kopf ist ein Wimpel mit der Fahne Jugoslawiens, ein Land, das nicht nur er schätzte. Bis zu seinem 18. Lebensjahr hatte er einen jugoslawischen Pass. Wie der erklärte Pazifist Boris aber dazu kam, eine alte Dekorations-Muskete über sein Bett zu nageln, weiss wohl nur der Verkäufer vom Flohmarkt. Nun ja, als Aufhänger für den Teddy wirkt sie noch originell.

Der Umgang mit Netzspannung oder gar den Hochspannungstrafos in TV - Geräten ist nichts, was man Kindern ohne weiteres empfehlen kann. Werden Kinder aber gezielt in die Gefahren eingewiesen, so sind diese Dinge auch nicht gefährlicher als der Umgang mit einem Messer oder gar die Teilnahme am Berliner Strassenverkehr. Zur Einweisung gehört nicht nur, zu zeigen, worauf man achten muss, sondern auch, wie ein Stromschlag sich anfühlt. Kinder wollen alles erleben. Daher sollten sie auch die Möglichkeit haben, unter kontrollierten Bedingungen zu fühlen, wie Strom durch die Finger geht: Auf isolierender Unterlage stehen, Mehl an den Fingern und mit nur einer Hand mit zwei Fingern den Netzanschluss berühren. Das schafft Respekt vor der Gefahr, vermeidet aber unnötige Angst.

Boris beschäftigte sich aber auch mit normalem Spielzeug. Kriegsspielzeug hat er wohl keines gehabt, seine Eltern fanden das nicht gut und andere dachten ebenso. Er hatte Lego, damit auch mit 6 schon eine Eisenbahn, aber leider war sein Zimmer dafür zu klein. Später bekam er deshalb eine Eisenbahn, Spur N, die auf eine Platte unter sein Bett passte. Wie prognostiziert, verging daran aber die Lust, nachdem alles aufgebaut war und mehrere Züge zwischen beleuchteten Häuschen umherfuhren. Die Erfahrung, dass das dann langweilig wurde, hatten andere schon vor ihm gemacht. Nun sah auch er, dass der Bau das schönste daran war. Konstruktionsspielzeug ist für kreative Köpfe einfach das beste. Er hatte deshalb von der sehr guten, aber teuren Fischertechnik und vor allem Stabilo- Metallbaukästen von Märklin. Von diesen Konstruktionen hat er aber in Pula nur erzählt, mitgebracht hat er nie etwas. Mit diesen Dingen beschäftigte er sich nur während der kalten Jahreszeit. Im Sommer in Pula waren dann andere Dinge angesagt, besonders die Arbeit in der Werkstatt gegenüber Haus 42.

Es gab praktisch keinen Bereich der Technik ,der Boris nicht interessierte, aber ein gewisser Schwerpunkt scheint die Kommunikationstechnik gewesen zu sein. Ein CB-Funkgerät vom Flohmarkt hatte er noch vor dem Schnurtelefon. Das normale Telefon zu Hause wäre zwar perfekt gewesen um mit Freunden Kontakt zu halten und sich austauschen zu können. Die Telefongebühren der 70er und 80er Jahre waren aber viel zu hoch, um ihm das ausreichend zu ermöglichen. Diese Geldgier der Post betraf vor allem Leute mit kleinerem Geldbeutel wie ihn. Er sah darin zu Recht seine Entwicklung eingeschränkt, das sollte er der Telekom nie mehr verzeihen. Seine späteren Hacks von Telekom- Systemen waren mit dadurch motiviert. Auf Kosten von anderen Leuten zu telefonieren ging zwar schon seit den 80ern. Sein Ziel und das seiner Freunde war aber, es auf Kosten der verhassten Telekom selbst zu machen. Durch seine Entwicklung einer sich selbst wiederaufladenden Telefonkarte war er einer der ersten, der das schaffte.

Da er mit dem CB-Funk nicht allzu weit kam, schaute er sich nach was stärkerem um. Amateurfunk war von der Reichweite nur durch die Natur begrenzt, weltweite Unterhaltung ohne Gebührenzähler war im Prinzip möglich. Ein Onkel war Amateurfunker und Boris war ein begeisterter Schüler. Mit etwa 10 Jahren hatte er dann alles zusammen und rückte mit Bohrmaschine und Antenne am Balkon an. Seinen Eltern war dabei garnicht wohl zu Mute. War es doch ein Mietshaus und die unübersehbare Antenne, die er da andübelte, deutlich größer als er selbst. Ohne große Antenne ging's aber schlecht und zum Glück gab's keine Beschwerden.

Die hätte es aber wieder von der Post (Telekom) geben können. Denn Boris hatte sich nicht nur einen Empfänger, sondern auch einen Sender beschafft. Die Lizenz hingegen empfand er überflüssig: "Ich will ja nur mit Leuten reden". Da er diszipliniert und freundlich vorging, gab es auch keinen Ärger, sonst hätte ihn der Funkpeildienst schnell erwischt. Er erzählte von guten Verbindungen, auch nach Jugoslawien, wo er Gesprächspartner fand. Alles in allem war der übliche Gesprächsinhalt beim Amateurfunk aber nicht soo toll, wie er es sich vorgestellt hatte. Er beherrschte wenig Englisch und an den physikalischen Effekten konnte er sich auch nur kurz begeistern. Er wollte Input, Input, und was da vom Inhalt her kam, befriedigte ihn nicht dauerhaft.

Boris mit Monitor-Brille Mitte der 90er beim Installieren von Sat-TV im Keller von Haus 42. Boris hatte in Berlin schon Ende der 80er, also recht früh, eine TV- Satelliten-Empfangsanlage installiert. In seinem Zimmer in Berlin soll ständig das TV, meist Discovery Channel, an gewesen sein. Ganz anders in Pula. Dort konnte er wochenlang ohne auskommen. Im Keller war nicht einmal ein TV Gerät, in den oberen Etagen aber schon. Aber zu empfangen war nur kroatisch und italienisch. Was lag näher, als ihn zu motivieren, doch auch in Pula eine Sat Anlage zu installieren. Er brachte alles aus Berlin mit, für ein TV Gerät reichte aber der Gepäckplatz nicht mehr. Drum nahm er eine Brille mit, da er ja nur justieren wollte.

Prombt kam aber gerade eine interessante Nachrichtensendung rein und er durfte erzählen was er sah und hörte. Dabei wurde dieses Bild geschossen, ohne dass er es bemerkte. Zu der Zeit lies er sich garnicht mehr so gerne Fotographieren. Im Hintergrund ein Bild was Boris recht wichtig war, die Brücke von Mostar. Was vormals ein touristisches Juwel der Adria war, wurde im Bürgerkrieg zerstört und war nun (wie heute noch), ein Symbol für die Zerrissenheit und das Leid Jugoslawiens.

Boris installierte das Sat-TV für alle Etagen und beschaffte auch für sich noch einen Fernseher. Bald wurde klar, dass es doch keine sooo gute Idee war die Anlagen auf zu bauen. Pula ist eine hübsche Stadt aus der Antike. Nachmittags geht man am Amphitheater oder dem Augustus-Tempel entlang, kommt über Jahrhunderte alte Straßen an einer frühmittelalterlichen Kathedrale vorbei, durch die Waldstraße nach Haus 42 und legt sich mit einem guten Buch über das Mittelalter in den Liegestuhl im Garten. Man denkt über den Untergang der antiken Welt nach und geniest die Ruhe. Bis man um 16 Uhr unvermittelt die Beamgeräusche von Raumschiff Enterprise in den Nacken bekommt: "BOORIIIS! LEISER!"


Dass er irgendwann mit Computerei anfangen würde, war klar, es war nur eine Preisfrage. Die ersten, besonders der Apple II, waren einfach zu teuer. Mit dem C64 war dann ein gutes Preis/Leistungsverhältnis gegeben, und er konnte seine Eltern überreden, ihm das zu spendieren. Boris' Wünsche nach "Spielsachen" waren gut begründet, aber auch nicht billig. Seine Eltern haben eine ganze Menge in ihn investiert, er selbst hat aber auch das beste daraus gemacht. Sonntags vormittags ging er in Berlin immer auf den Flohmarkt, "wenn andere zur Kirche gehen", wie er meinte. Da lief bei ihm einiges an An- und Verkauf. Vor allem Telefone und EDV-Zubehör.

Da sein Vater befürchtete, er könne zu viel Zeit am C64 verbringen, kaufte er ihm gleich noch eine Dauerkarte für den Berliner Zoo. Diese Sorge war sicher unbegründet. Im Jahre '98 liess Boris sich mal durch den Kopf gehen, wie es wäre, dauerhaft in Südafrika zu bleiben. Am liebsten ein Elektroniklabor mitten im Nationalpark, wo die Geparden täglich am Meßplatz vorbeischauen. Selbst ein Leben als Tierforscher hätte er sich für die 2020er vorstellen können: Daktari Boris als Jane Goodall der Geparden ;)

Der C64 war ein wunderbares Gerät, um den technischen Horizont zu erweitern und die geistigen Fähigkeiten zu testen. Für Boris war dieses Gerät alles andere als eine Black-Box. Er war mit den Grundzügen der Elektronik vertraut, kannte die 74er Serie und wusste, dass auch der C64 nur auf Gattern und Flip-Flops beruhte: Tausende Transistorschaltungen, die per Software eine Million mal pro Sekunde ihre Zusammenarbeit koordinieren. Diese Vorstellung machte dann das Arbeiten mit dem Gerät besonders genußvoll. Während er sommers in Pula gut ohne TV auskam, mußte der jeweilige Rechner immer mit. Das war sein Schatz und es war ziemlich klar, dass irgendwas mit EDV, eher Hard- als Software, auch mal seine Zukunft sein würde.



Sonnenuntergang in Haus 42. Über dem Bett im Vordergrung ein Moskitonetz, um den Schlaf nicht zu stören.


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